Liebe finden: analog oder digital?

Früher, als Single – sagen wir vor 10 oder 15 Jahren – gingen wir in Bars, Clubs, auf Partys, zu einer Vernissage oder zu einem Abend bei Freunden und ließen uns überraschen, ob wir an diesem Abend die Liebe finden würden. 

Und es waren oft beileibe keine erfolgreichen Abende, denn mehr als einmal waren wir schlicht zu gehemmt, um jemanden anzusprechen. 

Oder, er oder sie, wenn sie denn wenigstens äußerlich durch Darwins Raster hätten fallen können, waren erst gar nicht da. 

Dafür lernte man an so einem Abend vielleicht den Kumpel fürs Leben kennen, der einem helfen konnte, die künftigen Niederlagen und Enttäuschungen besser zu verkraften. Man schaute sich in die Augen, sagte: „Hey, lass uns einen heben. So jung kommen wir auch nicht mehr zusammen.“ 

Dann gab es Abende, da schaute unsereiner auf die Tanzfläche oder in die Runde der anwesenden Gäste und irgendwie war klar: „Hey, da geht was heute.“ Es gab schließlich eine Unmenge an sympathischen Gesichtern. Es lag was in der Luft. Vielleicht ging es nicht gleich darum, die große Liebe zu finden, aber die Chance war wenigstens real.

Und auch wenn einen am nächsten Morgen nicht die Big Love mit der vergangenen Nacht anhauchte, so waren das doch Abende und Nächte, die man wenigstens analog spüren und erfahren durfte. Und heute? Ja, heute ist es noch viel anstrengender, die Liebe zu finden. Es gibt eine solche Unmenge an Liebesportalen, wo man Gleichgesinnte und andere Selbst-Optimierer finden kann, dass es einem ganz schwindelig wird. Man sollte, Freunde raten dazu, lediglich ein perfektes Selfie von sich erstellen. Das ist mit etwas Photoshop und ein oder zwei Picture-Apps und einem Selfiestick kein wirkliches Problem. Dann bastelt man noch etwas am Alter herum, fügt einen hübschen Job ein und denkt sich das eine oder andere nicht vorhandenen, aber spannenden Interesse aus. Auf oberkörperfreie oder super enge T- Shirt-Pics mit Mörderausschnitt sollten wir verzichten oder auch nicht, und schwupp flattern mit Sicherheit eine Unmenge an digitalen Anfragen, Matches oder sonstige Versprechen ins eigene Postfach.

Die Frage ist nicht, ob blond oder braun, ob 75 A oder D, ob Studentin, Modestilistin, Bankerin oder Bloggerin, ob Zahnarzt, Anwalt oder Versicherungshengst, die Frage ist: „Wem schreibe ich und vor allem was?“  

Das Dumme ist, Frauen erwarten ein Minimum an spannenden oder zumindest ungewöhnlichen Texten, doch Männer können oder wollen meist nicht liefern. Stattdessen verwechseln sie gelegentlich, in welchem digitalen Portal sie gerade unterwegs sind. Da kann es schon mal passieren, dass das gerade besuchte Fetisch- oder Seitensprung Portal mit dem auf dauerhafte Beziehungen angelegten digitalen Türchen verwechselt wird. Was dann besonders Frauen nervt und an der Spezies Mann zweifeln lässt, ganz nach dem Motto: „Gibt es hier eigentlich nur Schimpansen, die alles vögeln wollen, was nicht bei 3 Offline ist?“ 

Und das ist nur das eine Problem, etwas Liebe zu finden.

Doch wenn der gestresste Single gefühlt das 234. Mal etwas Witziges, Einmaliges, besonders Cooles schreiben soll, dann hat er irgendwann so was von die Nase voll, dass er doch tatsächlich Serienbrieftexte auswählt, weil das schlicht einfacher zu behalten ist. Woher soll der verzweifelte Single schließlich auch wissen, ob er vor drei Mails noch Anwalt, Arzt oder Unternehmer war, oder doch vielleicht Studentin, Erzieherin oder Anästhesistin. 

Und dann gibt es ja noch ein ganz besonderes Problem. Nach gefühlt weiteren 235 Mails endlich das erste, kaum noch für möglich gehaltene Live-Treffen in einem Café oder einer Bar: „Wie? Der Typ da drüben soll Joe567 sein? Soll 36, 1,85 m und Start-up Owner sein? Eher wohl 46, 1,75 m, Koksnase und verpulvert die Reste des Familienerbes. Oder was ist mit der da, die gerade auf mich zustürmt? Halleluja! Das soll Selina Hot89 sein? 1,74 m, 53 Kg und lange blonde Haare? Wohl eher Selina Not, 73 kg, 1,62 m und die Haare gerade auf Kinnlänge gekürzt.“ Da gehe ich doch besser analog in meine Bar, bestell mir analog ein paar Drinks, sauf mir die Welt und Umgebung schön, rufe danach digital eine Ex an, und halte das Leben für wunderbar. Muss mir schließlich nicht die Finger auf dem Display wundschreiben. Und ich bin sicher, hier in meiner Bar treffe ich schneller auf eine verwandte Seele als in diesem oft nervtötenden Optimierungswahn-Netz. 

Cheers!

Liebe finden? Ganz schön schwer manchmal
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