Leseprobe:
Pétanque
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Kapitel 1:
Banker
»Warum bringst du ihn nicht endlich um?«
»Mann, ich hab ’ so was noch nie gemacht.«
»Komm, gib mir das Messer. Ich zeig’s dir. Du stichst zuerst in den Bauch, siehst du hier, da liegt die Aorta …«
»Oh Gott … Jason, verdammte Scheiße?«
»Dann rammst du das Messer unterhalb der Brust, siehst du so …«
»Jason, Mann, hör ’ auf damit. Ich muss gleich kotzen.«
»Jetzt stell dich nicht so an, Eddy, das Schwein hat schließlich deine Schwester auf dem Gewissen!«
»Warum musstest du mich mit dieser Schlampe betrügen?«
»Jetzt beruhig dich, denk bitte an die Gäste.«
»Ist sie jünger?«
»Anna, was soll das?«
»Ist sie versauter im Bett? Na los, sag schon?«
»Ach, hier steckt ihr. Eure Gäste warten schon. Sie wollen endlich den Kleinen sehen.«
»Dann sag ihnen, sie müssen noch warten. Ich hab’ hier noch was zu klären.«
»Jetzt kommt, es ist schließlich die Taufe von Richard.«
»Mutter, noch fünf Minuten, ja?«
»Kandidat Zwei surft für sein Leben gern, liebt den Süden und das Abenteuer. Und Kandidat Drei liegt sonntags den ganzen Tag im Bett, küsst leidenschaftlich und fährt Oldtimer. Für wen entscheidest du dich?«
»Ich nehme Kandidat …«
»Hauptmann, melde gehorsamst, die Russen sind höchstens noch fünf Kilometer entfernt. Erlauben Sie, dass ich mich kurz von Ewa verabschiede?«
»Aber beeilen Sie sich, Huber! Die Russen machen keine Gefangenen mehr.«
»Goldpreis und Flüchtlingswelle steigen auf neue Rekordniveaus. Dazu rekordverdächtige Temperaturen. Auch morgen wieder über 35°. Guten Abend, meine Damen und Herren …«
Patrick Leguso schaltete den Fernseher aus, legte die Fernbedienung neben sich. Er stand auf, ging zum Fenster und wollte endlich ein bisschen kühlende Nachtluft hereinlassen. Doch draußen wehte immer noch der schwüle Septemberwind. Es schien, als wolle der Sommer dieses Jahr kein Ende nehmen. Schlich schon seit Monaten durch die Straßen wie ein keuchender Hund. Überraschte die Bewohner mit kurzen, warmen Schauern, die alle hinzunehmen schienen wie wehrlose Bäume Markierungen eines Köters. Die Sommer mit ihrer unerbittlichen Hitze liebten diese Stadt schon immer. Kein Geld für Klimaanlagen, kein Geld für Straßenarbeiten, dafür Millionen ungeduldiger Opfer, die schwitzten und stöhnten, in U-Bahnen, Bussen, auf den Straßen. Die Stadt war pleite, aber beliebt, wie so viele Metropolen dieser Welt.
Patrick nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Whiskyglas, sein Blick starr auf die Straße unter seinem Fenster gerichtet.
***
Er dachte an sein früheres Leben, dachte an den Unfall vor zwei Jahren, der sein Leben so verändert hatte. Plötzlich kam mehr Wind auf, schien seine Gedanken hinfort zutragen. Hinfort zu dieser jungen Polin, die ihm heute Nachmittag begegnet war. Ihr Name war Kasia. Was hatte sie nur vor mit ihm? Doch was hatte er noch zu verlieren? Da, wo er jetzt angekommen war. Seine Gedanken kreisten weiter.
Durch das geöffnete Fenster drang die Stadt wieder in sein Zimmer. Sirenengeheul der Feuerwehr, hupende Autos, klingelnde Fahrradfahrer, immer wieder »Hey, pass auf, du Penner!«, zerspringende Bierflaschen, krächzende Motorroller. Und alles um 1 Uhr morgens. Großstadt eben. Groß und verrückt.
Vielleicht lag es an der Luft, die nie still, immer in Bewegung war. Vielleicht lag es an der Geschichte der Stadt, die immer Tempo verlangte, nie zur Ruhe kam. Nur nichts verpassen, alles mitnehmen. Mit den Augen, mit der Nase, mit dem Mund. Die Radfahrer rasten unter dem Wind hindurch, vorbei an roten Ampeln, erschrockenen Fußgängern und hupenden Bussen. Gerade so, als ob ein unsichtbarer Mörder sie verfolgte. Sie hetzen würde durch die Stadt, auf ihrer ermüdenden Suche nach schützender Arbeit, besseren Wohnungen und beruhigenden Therapeuten.
Patrick verstand sie besser, die Gehetzten, seit er selbst die Stadt mit seinem Rad durchquerte. Ämter, Jobs und andere Probleme kümmerten sich hier nicht um Entfernungen. Sie waren da und man war leider dort.
Dort war übrigens da, wo Menschen dieser Stadt wohnten und Freunde hatten. In ihren Vierteln, die sie liebten wie Dorfbewohner ihre Dörfer. Die sie nur am Abend verließen, wenn die Temperatur ein wenig abkühlte und das Nachbardorf mit Neuem lockte. Je höher die Temperaturen, desto höher die Anforderungen an Partys, Künstler und ihre Illusionen. Es gab Tage, da waren Angebote an Abwechslung so groß, so bunt, so verwirrend, dass Neuankömmlinge wie er sich nur noch schockiert ergaben. Nicht, dass ihm Metropolen fremd waren. Doch diesmal war er nicht eingeflogen wie sonst: für Meetings, Konferenzen oder Kurztrips. Diesmal musste er bleiben. Doch er war bereit für Neues. War bereit für eine Stadt mit Bürgersteigen, so breit wie Hauptstraßen, mit Schlaglöchern, so tief wie Felsspalten, mit Parks, so groß wie Kleinstädte. Er war verfügbar für eine Welt, die Chaos liebte, die Chaos brauchte. Für eine Welt, die Nischen bot für alles und jeden. Für eine Welt, deren Frauen, wenn sie auch manchmal Frauen liebten, die schönsten waren, die er je gesehen hatte. Denn sie kamen von überall her. Blieben mal für Wochen, mal für Jahre. Nur gut, dass viele erst viel später mitbekamen, wie oft doch gutaussehende Männer schon vergeben waren in dieser Stadt. An andere Männer, die sie liebten und betrogen. Mag sein, dass darum hier so viele Frauen lächelten. Für das Lächeln eines Mannes. Denn das erregte ihr Interesse. Wenn er dann noch mit dem Auge zwinkerte, dann konnte er bald Bekanntschaft machen … mit der Glut in dieser Stadt, die kein Wind, sei er noch so stürmisch, jemals zum Erlöschen brächte.
Und erst die Nächte. Nur stramme Schenkel und feste Hintern, von all dem vielen Radfahren, waren zahlreicher hier als Bars und Clubs. Unzählig wie Sandkörner am Strand. War die Stadt nicht eine einzige Strandparty, fragte er sich manchmal. Auch wenn Ebbe herrschte in ihren Kassen, die Menschen feierten trotzdem hier. Womit wusste manchmal keiner, warum, das wussten alle. Wer hier überlebte, durfte feiern. Denn das war ihr Gesetz. Und es gab viele, die ihm folgten. Und, dass die Stadt fast überall auf Sand gebaut war, verstärkte nur seinen Eindruck: Die Stadt, in der er lebte, war nicht normal, war unvergleichlich, war Berlin.
Und das war gut so. Wo sonst hätte er wieder von vorn anfangen können, als hier in dieser Stadt. Wo Schicksale und Nationalitäten angespült wurden wie Treibholz nach einer scheinbar nie enden wollenden Flutwelle. Nicht, dass all die vielen Neuankömmlinge wie er sofort dieser Stadt verfielen. Nicht, wenn Schnoddrigkeit und Ungeduld vieler Ureinwohner einen am Anfang oft glauben ließen, man sei hier eher unerwünscht. Nicht, wenn gutbezahlte, offene Stellen hier so selten waren wie offene Arme, die einen in Empfang nahmen. Doch wer einmal hier war, bekam diese Stadt nicht mehr aus seinem Kopf. Sah auf einmal wieder Möglichkeiten, sah wieder Chancen, an die man vorher nicht im Traum gedacht hätte. Sah, wie Menschen mit nichts außer ihren Ideen etwas Neues erschufen, um davon zu leben, und das oft mit beträchtlichem Gewinn. Wie bei diesem freundlichen Pärchen, das vor einigen Jahren, nicht allzu weit entfernt von Patricks Wohnung, einen kleinen Laden eröffnet hatte. Sie nannten ihn »Kauf dich glücklich« und verkauften dort neben Eis und heiße Waffeln auch preiswerte Möbel aus Haushaltsauflösungen. Auch Flohmarktjeans vertickten sie, teils mit, teils ohne selbst gemachte Löcher und immer wieder Nippes, wie diese tiefroten Spielzeugautos, die eigentlich Taschenlampen waren. Hauptsache, alles besaß diesen Sixty – oder wenigstens Retro-Style.
Von neun bis zwölf Uhr gab es meist nur eine Handvoll Kunden, die den Laden durchstöberten, und es sich anschließend draußen auf weiß lackierten Stühlen mit brombeerfarbenen Kunstledersitzen bequem machten. Bei einem Milchkaffee vorbeihetzende Touristen dabei beobachten, wie sie ihr dichtgedrängtes Berlin-Programm zu erfüllen versuchten, während sie nervös mit ihren Stadtplänen oder Smartphones herumfuchtelten, und immer wieder Hilfe suchend nach rechts oder links schauten.
Dann gab es Tage, da bemerkte Patrick eine ganz besondere Spezies von staunenden Berlin Besuchern. Er nannte sie immer Muttertiere, die ihren Nachwuchs besuchten. Töchter und Söhne, die hier studierten, künstlerischen Träumen nachhingen, Reste einst üppiger Erbschaften, Abfindungen oder sonstiger Apanagen verlebten oder es schlicht genossen, in der Stadt der Partys, DJs und Klamottenläden zu leben. Ein Leben, so frei und ungebunden, jedenfalls solange noch Geld da war oder überwiesen wurde. Ein Leben, das ihre Eltern sicherlich auch gerne mal gelebt hätten, wenn Wirtschaftswunder die einen und eingemauerte Planziele die anderen nicht daran gehindert hätten. Oder wie fasste seine spanische Kollegin das Phänomen Berlin neulich so treffend zusammen: »Nach London geht man um Karriere zu machen, nach Berlin, weil man sich das Scheitern hier leisten kann!«
Dabei zupfte sie ihr neues T-Shirt zurecht, so dass ein Schriftzug über ihren Brüsten besser lesbar wurde. Und was da zu lesen stand, erklärte, warum sie so stolz war, in diesem Dschungel hier zu leben: »London is King. Berlin is King Kong!«
An sonnigen Tagen, wenn er mit Notebook und Smartphone sein Büro kurzerhand ins »Kauf dich glücklich« verlegte, und er zwischen Kundengesprächen und E-Mail-Beantwortung immer wieder dem Treiben auf der Straße zusah, machte das wenigstens seinen schlecht bezahlten Job ein wenig erträglicher. Noch vor zwei Jahren hätte er nicht im Traum daran gedacht, seiner damaligen Heimat, Frankfurt, für immer den Rücken zu kehren. Er hätte wirklich jeden für verrückt erklärt, der ihm prophezeit hätte, er müsse mal von knapp 1200 Euro im Monat leben, was ihm an schlechten Monaten als Fixgehalt übrigblieb. Immer dann, wenn seine Gesprächspartner – meistens internationale Konzerne und große Mittelständler – partout keine weiteren Ressourcen für sportliche Großereignisse antasten wollten, um gute Kunden mit gesponserten Tickets und anschließendem Wining and Dining für neue Vertragsabschlüsse zu motivieren. Ein Essen beim Italiener um die Ecke müsse reichen. Die Controlling-Abteilung sitze ihnen im Nacken, nächstes Jahr vielleicht, wenn die Krise vorüber sei, meinten sie, um gleich darauf in ein angebliches Meeting zu flüchten, um ihr Gespräch schneller beenden zu können. Krise, wie er dieses Wort mittlerweile hasste. Es folgte einem überall hin: in Zeitungen, ins Internet, ins Smartphone: Weltwirtschaftskrise, Finanzkrise, Ölkrise, Bankenkrise, Schuldenkrise, Flüchtlingskrise, Brexitkrise … Und halb Europa strömte doch schon nach Berlin. Auf der Flucht vor der Krise. Auf der Suche nach Jobs, Frieden oder wenigstens billigem Stoff. Den, immerhin, gab es hier reichlich.
Dann kamen Patrick die vollbesetzten, teuren Restaurants in den Sinn, die edlen Cafés, mit Unmengen lachender, gut angezogener Menschen, mit ihren vollen Shoppingtaschen, die sie später in ihre dicken Autos in Mitte oder am Ku’damm hievten … da war nicht die geringste Spur einer Krise. Doch Neid war Patrick fremd, Wehmut auch. Er spürte nur hin und wieder diese leichten Stiche in seiner Magengegend, wenn er an all die Glücklichen dachte, die bequem von den Früchten ihrer Gehälter oder Boni leben konnten. Dabei war er so dicht dran, so verdammt dicht dran. Nach all den Prüfungen damals an der Universität in Frankfurt. Nach den harten Jahren in der C-Bank, die ihm nach Bestehen des Graduate Management Admission Test ein MBA in Boston vorfinanziert hatte. Nach all den unzähligen Gruppenarbeiten, den Cases, den Consulting Projects für echte Klienten. Nach all den Wochenenden, die er dort durchpaukte, abends höchstens mit zwei oder drei Samuel Adams hinunterspülte, keine Zeit blieb für kurze Röckchen mit eng sitzenden T-Shirts, die überall herumliefen und einen an das andere Leben erinnerten. Höchstens mal ein bisschen Gefummel mit einer der Kellnerinnen im Getränkeabstellraum waren drin in seiner MBA-Zeit. Dann waren da noch die Adrenalin verzehrenden Cold Calls seiner Professoren, die willkürlich Studenten auswählten, um sie dann vor dem versammelten Auditorium auseinanderzunehmen. Oder diese unendlichen Marketing Strategies, Marketing Research, Sales Force und Management-Fallstudien, dazu noch dieses dauernde Erstellen von wissenschaftlichen Artikeln zwischen den Prüfungswochen. Und dann, wenn alles vorüber war, Patrick sich mehr scheintot als lebendig vorkam, auch noch diese verrückte Crazy Recruiting Season, wo alle seine Kollegen anstatt in Jeans und offenen Hemden plötzlich für drei Wochen in smarten, engen Businessanzügen herumliefen. Alles nur, um auch äußerlich für die Großen der Wirtschaft ein wenig Eindruck zu schinden, weil die ihre Recruiter einfliegen ließen, um die High Potentials der nächsten Generation abzuernten. Bei einem dieser Interviews musste Patrick den Vertreter einer europäischen Großbank, der B-Bank, so mächtig beeindruckt haben, dass er noch am selben Abend von ihm eine Zusage erhielt, und nicht wie viele seiner Kollegen dieses Ding verpasst bekamen, wie sie liebevoll Absagen hier nannten. Die Kosten für sein MBA würden sie ihm mit zehn Prozent Extraboni an seine C-Bank überweisen und mit seinem neuen Fixgehalt, ohne Boni versteht sich, würde er in einem halben Jahr die einhundertdreißigtausend Dollar wieder drin haben, meinte der B-Bank-Mensch zu ihm.
Nach weiteren zwei harten Jahren in der B-Bank, wo er mit seinen Konzepten der Automatisierung des Zahlungsverkehrs, der Ausdünnung des Filialnetzes, der Einführung einer Erfolgskontrolle beim Privatkunden-Scoring sowie der Auslagerung der Kreditbearbeitung zu sog. Kreditfabriken für mehrere Rationalisierungswellen innerhalb der B-Bank gesorgt hatte – was an anderer Stelle nicht unbemerkt geblieben war – gelang ihm schließlich vor acht Jahren, im Alter von dreißig, der Sprung in McBrady’s legendäres Team der A-Bank. Dort wurde er schnell – wie er damals noch glaubte – unentbehrlicher Teil eines äußert erfolgreichen Merger & Aquisition Teams, das Fusionen, Übernahmen und andere globale Schweinereien durchführen ließ. Geld floss in Strömen, Champagner sprudelte, als ob jemand den teuren Saft ins Leitungswasser eingespeist und danach vergessen hätte, den Hahn wieder zuzudrehen. Er kam sich zum ersten Mal reich vor. Die ganze Plackerei bis hierher hatte sich also doch gelohnt. Sich vorzustellen, wie schnell alles wieder vorbei sein konnte, fand Patrick nur lästig. Sagte einmal auf einer Gartenparty, im vornehmen Londoner Stadtteil SW1, barsch zu seinem Kollegen Winterbuttom, der mit der Geschwindigkeit ihres rasant wachsenden Reichtums weit weniger zurechtkam:
»Verdirb uns hier nicht diese Party, David. Zweifeln können wir auch noch, wenn wir alt sind.«
»Dir macht es also nichts aus, wenn das Geld, das wir verdienen, tausende andere in Armut stürzt.«
»David, du bist so schrecklich sentimental. Da draußen in diesem Ozean gibt es nun mal große und kleine Fische, gesunde und kranke. Wir sind nur so eine Art Gesundheitspolizei, bewahren nur das ökologische Gleichgewicht, okay!«
»Soweit ich weiß, haben Haie auch Feinde, nicht wahr?«
»Na und, hast du etwa Angst?«
»Ja, manchmal schon. Ich träume in letzter Zeit von diesem Unternehmer, der sich vor vier Wochen umbrachte, weil wir sein Lebenswerk zerstörten. Weil er seine dreihundert Mitarbeiter vor uns nicht retten konnte und diese Schande nicht mehr ertragen wollte.«
»Armer Kerl«, Patrick lächelte und nippte an seinem Longdrink Glas.
»Wen meinst du?«
»Na, wen schon, dich natürlich.«
Dann sah Patrick, der mit seiner Größe die meisten der anwesenden Gäste locker überragte, eine hübsche junge Frau auf sich zukommen. Er nutzte sofort die Gelegenheit, um dem Gespräch mit seinem Kollegen zu entkommen. Ihr Name war Annabelle. Annabelle, heute zweiunddreißig, brünett, mit edler heller Haut und einer Figur gesegnet, die die meisten Männerhosen über kurz oder lang eine Nummer kleiner werden lassen konnte – und, was noch beeindruckender war, die einzige Tochter des besten Großkunden seiner Bank in London. Diese Annabelle, dieses Traumwesen, lernte er vor sechs Jahren auf eben jener Gartenparty kennen, heiratete sie knapp ein Jahr später auf Barbados, an einem Wochenende im April. Seinetwegen hätte der aufwendige Hochzeitszauber nicht sein müssen. Er konnte nicht viel anfangen mit diesem ganzen Gefühlskram. Verstand nicht, wieso die Älteren weinten, die Jüngeren sich verklärt in die Augen blickten. Gefühle zu beschreiben, war Patrick schon immer schwergefallen. Nicht, dass er keine feuchten Hände bekommen konnte, wenn so was wie Angst in ihm hochkroch, oder er erröten, schwitzen oder stammeln musste, wenn er, was selten genug vorkam, nervös wurde. Doch wenn ihn jemand gefragt hätte, was Angst für ihn bedeutete, er hätte nicht gewusst, was er sagen sollte. Es gelang ihm einfach nicht, seine Emotionen in Worte zu fassen. Einmal war eine Freundin seiner Frau überraschend aus London eingeflogen. Sie wollte sich ausheulen über die schwierige Beziehung zu ihrem neuen Freund. Er war verheiratet und Rechtsanwalt, an sich so schlimm genug, doch noch schlimmer war, er konnte sich im Gegensatz zum Gerichtssaal nicht entscheiden, und entpuppte sich zu allem Übel auch noch als Vater ihres ungeborenen Kindes. Als Annabelles Freundin dann nach einer gefühlten Ewigkeit des Jammerns und Lamentierens endlich auf Toilette musste, da nahm Patrick Annabelle auf die Seite:
»Wie lange soll diese Flennerei noch so weitergehen? Und warum will deine Freundin mich unbedingt dabeihaben?«
»Verstehst du denn nicht, sie muss eine Lösung finden. Sie hofft, du könntest ihr ein wenig dabei helfen. Ich meine, zu verstehen, warum ihr Freund einerseits so eifersüchtig ist, sich anderseits aber nicht für sie entscheiden kann … Denk doch einfach daran, wie du dich in seiner Situation fühlen würdest. Du bist doch ein Mann, oder etwa nicht?«
»Du weißt, ich kann mit Eifersucht nichts anfangen. Wenn deine Freundin jetzt ein Kind von diesem Typ bekommt und nicht weiß, ob sie es will, dann würde ich sagen, hätte sie sich das vorher überlegen sollen. Mit verheirateten Männern in der Gegend herumzuvögeln ist eben nicht ganz risikofrei.«
»Wie kannst du nur so herzlos sein? Manchmal glaube ich, du hast da überhaupt kein Herz«, sagte Annabelle, stocherte dabei mit ihrem Zeigefinger auf Patricks Brust, »höchstens nur eine weitere perfekt funktionierende Festplatte wie die in deinem Gehirn.«
»Jetzt gehst du aber zu weit.«
»Zu weit? Und was bitteschön war vor drei Jahren, als dir die Polizei mitgeteilt hat, dass deine Großmutter bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war? Sie keine Chance hatte, dieser betrunkenen Kamikaze-Fahrerin auszuweichen. Und du als einziger das Ganze so verdammt cool aufgenommen hast. Ich meine, selbst ich, die deine Großmutter kaum kannte, musste an ihrem Grab weinen. Und du bist nicht mal zu ihrer Beerdigung gekommen. Standst nur an der Tür, mit deinem verlorenen Blick.«
»Hey Annabelle, du weißt, meine …«
»Ach, komm mir jetzt nicht schon wieder mit deiner Kindheit. Andere hatten auch Mütter, die arbeiten mussten. Gut, meine zwar nicht, aber trotzdem … besser die Großmutter kümmert sich um einen als eine Fremde.«
»Du hast ja keine Ahnung. Du weißt nicht, wie sie war … diese verdammte Katholikin aus Minnesota.«
»Wie auch? Du erzählst ja nie was.«
»Das stimmt nicht. Ich habe dir gesagt, wie oft sie mich als kleines Kind hat weinen lassen, wenn meine Mutter wiedermal im Ausland war. Dass Sie mich immer in diesen verdammten dunklen Schrank gesteckt hat, wenn ich ihr zu sehr auf die Nerven ging. Dafür habe ich sie gehasst, diese alte Frau. Nie hat sie mit mir gesprochen oder mir etwas erklärt. Nur immer alles verboten. Ich durfte weder auf Partys noch auf Konzerte, selbst Freunde mit nach Hause bringen, verbot sie mir. Da ist es ja wohl nicht verwunderlich, dass ich sie …, ach, lassen wir das, hat eh keinen Zweck. Möchtest du noch einen Gin.«
»Ja, aber mit viel Tonic.«
So liefen die Gespräche oft zwischen ihm und Annabelle. Wie bei einem kurzen Gewitter nach einem heißen Tag. Überraschend, heftig, mit anschließender Abkühlung.
Patricks Gedanken trieben weiter zum heutigen Nachmittag. Diesem Nachmittag als er die Polin … Es war gerade kurz nach 13.00 Uhr. Er trank meistens um diese Zeit schon seinen dritten London Dry im »Kauf dich glücklich«, als die ersten Heldinnen der Bevölkerungsstatistik stolz das Ergebnis von neun Monaten Schwitzen, Heißhungerattacken und Bandscheibenbeschwerden in alten Kinderwagen den übrigen Gästen präsentierten. Andere Mütter, die in stoßdämpfergefederten, mit dicken Profilreifen ausgestatteten Luxuswägelchen ihre Frischlinge auf dem Trottoir an ihnen vorbeischoben, musterten sie mit einem mitleidigen Lächeln. Schienen zu denken: Die haben auch noch nicht bemerkt, dass alt jetzt cool ist, weil alte Sachen wenigstens eine Geschichte haben, mal abgesehen davon, dass sie weniger kosten.
Eine der jungen Frauen am Nachbartisch wischte sich den Schaum ihrer Latte Macchiato von der Oberlippe und gab mit der anderen Hand ihrem Nachwuchs ein Fläschchen. Danach ließ sie weiße Kärtchen von preiswerten Fitness -und Jogazentren am Tisch kreisen, um hoffentlich bald, wie sie einer der anderen zurief, überschüssige Pfunde und dieses verdammte Wasser in den Beinen loszuwerden. Eine andere Frau aus der Runde warf lachend ein:
»Hey, nicht vergessen … vermeidet Natrium, esst lieber Produkte, die Kalium enthalten, transportieren die Abfallstoffe besser aus den Fettzellen, machen das Hautbild wieder straffer, versteht ihr?!«
»Danke für den Tipp, Mirijam«, sagte ihre Nachbarin, »will schließlich nicht so bleiben, wie ich bin, will so werden, wie ich war.«
Dann knuddelte sie ihr sabberndes Baby. Patrick dachte an seinen Sohn Jamie. Jamie würde jetzt bald sechs. Hatte sein Sohn früher auch so fröhlich gegluckst, wie dieser kleine Zwerg da? Hatte er ja nie mitbekommen, zwischen London, Paris und all den vielen anderen Städten, die er stets bereisen musste. Wie überhaupt er in den vergangenen Jahren nur wenig mitbekommen hatte von seinem Sohn. Seit der Scheidung von Annabelle, vor gut einem Jahr, war auch das noch weniger geworden. Und in den letzten Monaten war selbst das verschwunden, er bekam nun gar nichts mehr mit von seinem Sohn.
Seit Annabelle das alleinige Sorgerecht zugesprochen bekam – weil Patricks Anwalt in der ganzen Hektik zu spät bemerkt hatte, dass die güterrechtliche Trennung wegen Patricks amerikanischer Staatsbürgerschaft zwar nach US-Recht, das Sorge -und Erziehungsrecht aber nach britischem Recht erfolgte, weil der kleine Jamie eine britische Mutter und über die Hälfte seines Lebens in London verbracht hatte, womit sein Lebensmittelpunkt eindeutig in England war –, seit dieser Zeit herrschte totale Funkstille. Immer wenn er in London anrief, wo Annabelle mit dem kleinen Jamie seit einigen Monaten wieder lebte – ganz in der Nähe ihrer Eltern, Lord und Lady Bridget, in Kensington High –, da machte sie oder eines der Hausmädchen ihm höflich aber bestimmt klar, dass Jamie gerade nicht da oder Jamie bei seinen Großeltern sei. Und wenn er Annabelle auf ihrem Handy erreichen wollte, abends oder am Wochenende, war entweder der Anrufbeantworter dran, oder aber sie reichte nach ein paar Sekunden genervt den Apparat an eine männliche Stimme weiter, die ihm dann klarmachte, Madame Bridget müsse jetzt zur Massage.
Kapitel 2:
Der Unfall
Sie hatte ihn aus ihrem Leben entfernt, wie eine mit Viren verseuchte Datei. Datei gelöscht, so kam er sich damals vor. Nie hätte er geglaubt, dass sie sich einmal so schnell von ihm trennen würde, auch wenn es ihm manchmal so vorkam, als ob seine Frau schon länger nach dem berühmten Tropfen gesucht hatte. Aber vor zwei Jahren war es dann soweit, alles nur wegen dieser verdammten Unachtsamkeit.
Patrick, damals gerade in Frankfurt gelandet, was Annabelle zumindest an diesem Tag zu wissen schien, war noch müde von seinem langen Flug aus Melbourne, wo er drei Tage lang eine Megafusion zweier Stromgiganten vorbereiten half. Annabelle flehte ihn am Telefon an, Jamie und Oliver von der Schule abzuholen, sie sei noch am Golfplatz, würde es nicht mehr rechtzeitig schaffen.
Hanna, die Mutter von Oliver, die heute eigentlich die Jungs hätte abholen sollen, stecke noch im Stau. Ihr Kindermädchen Ruschana sei noch beim Einkaufen, hätte wieder mal ihr Handy nicht dabei, er sei jetzt der Einzige, der die beiden pünktlich abholen könne. Er kenne ja Hanna, sie sei die geborene Panikerin, schrie Annabelle gegen den Flughafenlärm an … Und wie er Hanna kannte, die Frau seines Chefs Ian McBrady. Eine Frau gewordene Litfaßsäule für Modelabels: ein wenig schlanker, ein wenig kleiner, aber alles in allem vergleichbar werbewirksam. Eine Stimme, so schrill, dass nicht nur alles aus Glas grundsätzlich eine gewisse Unruhe zu verspüren schien, sobald sie den Raum betrat. Oliver, das einzige Kind der McBradys, nach zwei vorangegangen Fehlgeburten von Hanna, war ihr Ein und Alles. War der lang ersehnte Erbe ihrer merkwürdigen Gene, die, so hatte es den Anschein, nur ein Ziel kannten, die Perfektion: perfektes Äußeres, perfektes Leben.
Als Patrick bereits in seinem schwedischen Offroader saß, klingelte nochmals sein Handy:
»Schatz, vergiss bloß nicht, dass sich die Jungs auf der Rückbank angurten. Lass sie um Gotteswillen nicht DVD schauen. Habe, glaube ich, nach unserem letzten Ausflug im Wald, das Filmchen mit den schmutzigen Sachen noch nicht entfernt. Wenn die Jungs das sehen. Du weißt schon … Oh Gott, wenn Oliver davon Hanna erzählt, Oh Gott, das wäre zu peinlich.«
»Ist gut, Annabelle, werde schon dafür sorgen, dass die Jungs nicht schmutzig werden. Bis nachher.«
Er öffnete die hintere Wagentür, nahm die DVD aus dem Geräteschacht, verstaute sie in einem Ablagefach in der Türverkleidung. Gegen seine Müdigkeit steckte er sich einen Kaugummi in den Mund. Dann brauste er los. Jamie und Oliver warteten schon vor der Schule mit einem Gesichtsausdruck, wie ihn nur verwöhnte Kinder haben können, deren Chauffeur sich verspätet hatte. Sich verspätet hatte, ohne vorher Bescheid zu sagen. Unglaublich! Kein bisschen Sorge, dass man sie vergessen haben könnte, stand in ihren Gesichtern, nur diese Unzufriedenheit, dass man sie warten ließ, wo sie doch zu Hause schon längst mit ihren Cyberhelden hätten spielen können. Doch als Jamie den Wagen seines Vaters sah, fing er auf einmal an zu strahlen. Wusste, dass sein Dad eine supercoole DVD-Anlage an Bord hatte, die sie auf dem Nachhauseweg – der im Schnitt ohne Stau zwanzig bis fünfundzwanzig Minuten dauern würde – benutzen konnten, um sein neues Computerspiel auszuprobieren. Eine Raubkopie, wie so oft in letzter Zeit, kompatibler fürs Taschengeld, wie Jamie seinem verdutzten Vater einmal erklärte, als dieser sich wunderte, wie er mit seinem Taschengeld an all diese Neuheiten herankäme. Dass sein Sohn heute so einen Silberling im Rucksack hatte – nur eine Stunde zuvor in der großen Pause von einem Mitschüler besorgt –, konnte Patrick natürlich nicht wissen.
Was er aber hätte wissen müssen, was er unbedingt hätte bemerken müssen, dass die DVD-Anlage und damit die Bildschirme in den Nackenstützen der Vordersitze aktiviert werden konnten, wenn man den Knopf neben der Klimaanlage aus Versehen traf. Doch für solche Fälle leuchte dann stets ein kleines gelbes Lämpchen im Cockpit auf. Nur, da waren immer viele kleine Lichter, die blinkten wie in einem Raumschiff. Wenn man allerdings zum Einschlafen müde war wie er, war man schon froh, sich noch einigermaßen auf den Verkehr konzentrieren zu können. So nahm das Verhängnis seinen Lauf.
Wie in Trance befahl er den beiden sich anzugurten. Keinen Mucks wolle er von ihnen hören, Dad habe einen anstrengenden Flug gehabt.
»Klar, Dad.« Jamie grinste dabei Oliver an, legte seinen Zeigefinger kurz auf die Unterlippe, kramte dabei die DVD heraus.
Patrick, die 30er Zone wollte kein Ende nehmen, sah am Straßenrand Mütter mit Kindern an der Hand auf dem Gehweg laufen. Gut so, dachte er, keine rennenden Kinder, die plötzlich auf die Straße springen, nur, weil irgendetwas Glänzendes dort lag oder ein Schmetterling dort hingeflogen war. Er richtete den Gebläse-Schacht der Klimaanlage auf seine müden Schläfen. Hoffte, mit der Kühle würde seine Müdigkeit ein wenig nachlassen. Dann sah er eine alte Frau mit ihrem kleinen Dackel, der neben ihr rannte, vor, dann wieder zurück, ohne Leine. Schien der Alten zeigen zu wollen, was es hier alles zu entdecken gab. War eben jung, war eben neugierig. Die Alte war so langsam mit ihren Trippelschritten, aber sie schien sich zu freuen für ihr Hundchen. Plötzlich blieb das Dackelchen wie gebannt stehen, schien etwas Besonderes entdeckt zu haben. Es war eine Taube, ungefähr zwanzig Meter vor ihm auf der Straße.
»Er wird doch nicht, er wird doch nicht …«
Im gleichen Augenblick hörte er einen DVD-Einzugsschacht hinter sich einrasten, dachte, die Jungs hätten die Scheibe mit Annabelles schmutzigen Phantasien entdeckt. Dann sah er Lämpchen aufleuchten. Ob die Bildschirme wohl hinter ihm aktiv geworden sind? Zeit für lange Überlegungen war keine.
»Mach das Ding aus, Jamie.«
»Wow, wow«, hörte er Oliver schreien und sah im Rückspiegel, wie der Kleine der McBradys seine Gurte löste und zu Jamie hinüber rutschte.
Patricks Augen starrten wieder nach vorne. Das Hundchen war mittlerweile auf die Straße gerannt, schnappte nach der flügellahmen Taube, war nur noch wenige Meter von seinen Vorderreifen entfernt. Die kleinen Beinchen, sein schwerer Wagen, dabei mochte Patrick Hunde, mochte sie mehr als Katzen. Patrick trat auf die Bremse, aktivierte sämtliche schwedische Ingenieurskunst, hoffte auf sein neues Bremsassistenten-System, das, wenn die Werbung Recht behielt, den Druck aufs Pedal immer zu einer perfekten Vollbremsung aktivieren würde. Und tatsächlich, sein vier Meter achtzig langer, über zwei Tonnen schwerer Flanierpanzer stand. Wurde zwar gewaltig durchgeschüttelt, aber er stand. Blieb wenige Zentimeter vor dem erschrockenen, kläffenden Hundchen stehen. Patrick atmete tief durch und im nächsten Augenblick war sein bisheriges Leben zu Ende.
Er ahnte es sofort, als er in den Rückspiegel sah.
Doch er wollte es nicht wahrhaben. Vielleicht bestand ja noch Hoffnung, vielleicht gab es noch eine kleine Chance für ihn. Oliver McBrady lag blutüberströmt auf dem Rücksitz, sein Köpfchen ans Seitenfenster gepresst, die Augen weit aufgerissen, er gab keinen Laut von sich. Das Blut rann wie wild aus seinem Kopf, hatte sein hellblaues Sporthemdchen schon ganz violett getränkt.
Jamie war wohlauf, aber nicht fähig zu sprechen, starrte wie hypnotisiert auf seinen Freund Oliver. Patrick riss die Fahrertür auf, rannte ums Auto herum, öffnete die hintere Seitentür, gurtete Oliver vorsichtig wieder an, spurtete wieder nach vorne und startete den Wagen.
»Scheiße, Scheiße, so eine verdammte Scheiße«, schrie Patrick.
Krankenhaus! Wo verdammt lag das nächste Krankenhaus? Richtig! Felix-Dahn-Straße. Ruf 112 an! Schnell! Mit durchdrehenden Reifen verließ er die 30-iger Zone, driftete nach links in die Ernst-Jünger-Straße. Währenddessen befahl er der Stimme auf der anderen Seite der Leitung, sie solle sofort das Not-OP-Team der Klinik in der Felix-Dahn-Straße verständigen, ein kleiner Junge, mit Verdacht auf Schädelbasisbruch und inneren Blutungen würde in wenigen Minuten eingeliefert.
Patrick jagte seinen schwedischen Power-Elch um die Ecken, setzte das Gaspedal wie Peitschenhiebe ein, als sei eine Meute hungriger Wölfe hinter ihm her. Dann bemerkte er, dass seine Hände schwitzten, er immer mehr Mühe hatte, das Lenkrad ruhig zu halten. Obwohl sein Herz raste, seine Halsschlagader wie verrückt Blut und Sauerstoff in sein Gehirn pumpte – alles typische Anzeichen einer Panik-Attacke, wenn Menschen unkontrolliert einem Angstzustand verfallen – ihm wäre nie in den Sinn gekommen, es sei Angst oder gar Panik, was jetzt in ihm hochgestiegen war. Er hätte niemals mit diesen Worten seinen Zustand beschreiben können, als wenn er blind für diese Worte wäre, als wenn sie in seiner Gefühlsdatenbank einfach nicht vorkämen. Er wusste nur, wenn der Sohn seines Chefs das hier nicht überleben würde, wäre seine Karriere, alles, wofür er bisher so hart geschuftet hatte, vorbei. Denn sein Chef war mächtig und besaß gewaltigen Einfluss, auch bei Lord Bridget, Patricks Schwiegervater, der ihn schon immer für einen Emporkömmling gehalten hatte, seiner Tochter nur eben nie etwas abschlagen konnte. Nicht Patricks blauen Augen, die immer strahlten, nicht sein kräftiges, welliges, blondbraunes Haar und erst recht nicht seinen durchtrainierten Körper. Schon vor sieben Jahren, als Patrick einen von Lord Bridgets Freunden beraten sollte, wie er seine Millionen aus einem Firmenverkauf am besten anlegen konnte und er mit Patricks Ideen nicht zufrieden war, hatte er das Gefühl, das Ganze sei eine raffiniert eingefädelte Kampagne seines Schwiegervaters. Ein Schachzug, um Patricks Ranking bei seinem Chef McBrady zu drücken. Ihn womöglich zu einer vorzeitigen Auflösung von Patricks Vertrag zu bewegen. Denn dieser enge Freund von Lord Bridget war ein verdammt wichtiger Brocken, der von McBrady unbedingt bei Laune gehalten werden musste. Doch sein Chef konnte damals das Schlimmste gerade noch verhindern. Patrick hatte nach einer langen Nacht ein unglaubliches Konzept aus der Tasche gezaubert, das McBrady dann dem Big Guy präsentierte und alles wieder ins Lot brachte. Das war knapp, dachte Patrick damals. Als dann ein Jahr später Jamie geboren wurde, Lord Bridgets bisher einziger Enkel seiner beiden Kinder, schien Patricks Stern auf einmal heller. Es war ihm, als ob die Bridgets ihn nun etwas wohlgesinnter in ihre elitäre Mitte aufzunehmen bereit waren. Doch Patrick blieb auf der Hut.
Nun aber sah es düster aus für ihn. Oliver McBrady, der Enkel vom alten Donavan McBrady, Lord Bridgets bestem Freund, röchelte zwar noch, aber viel Leben schien nicht mehr in seinem kleinen Körper, da hinten auf der schwarzledernen, immer noch neu riechenden Rücksitzbank.
Wegen einem Dackel, einem bescheuerten deutschen Dackel, weil er nicht in der Lage war, einen Knopf zu drücken, einen simplen kleinen Knopf, musste ihr Sohn, mein Enkel, unser Erbe sterben. Das und mehr hatten sie ihm ins Gesicht geschleudert, nachdem der leitende Chefarzt Professor Dr. Glatscher, die Nachricht vom Tod des kleinen Oliver den Eltern und dessen Großvater Donavan McBrady überbringen musste. Der war sofort mit seinem Learjet nach Frankfurt geflogen, nachdem ihn sein Sohn über dieses schreckliche Unglück informiert hatte. Patricks Frau Annabelle hielt Hanna McBrady, die Mutter des Kleinen, zu diesem Zeitpunkt weinend im Arm. Patrick stand nur da, schien das alles nicht mehr wirklich mitzubekommen. Wie damals bei seinem ersten Joint in Boston, als die Studenten um ihn herum wie große Vögel auf seinem Kopf landeten und immer wieder auf seine Schädeldecke einhackten. Wieso er so schrecklich kalt sei? Warum er nicht dafür sorgen konnte, dass die Jungs keine DVD schauten? Wieso er so hastig bremsen musste, und dann noch wegen einem Hund, wegen einem bescheuerten Hund? Warum er nicht mal jetzt wenigstens die Mutter von Oliver in den Arm nehmen könne? Keine Tränen, kein Gefühl, nichts? Gefühlskalter Bastard! All diese Vorwürfe strömten an ihm vorbei, wie Stromschnellen an einem halbversunkenen Boot.
Warum? Tja, warum? Eine unglückliche, aber in sich logische Verknüpfung von mehreren Ereignissen, die in ihrer Abfolge zu diesem Ergebnis geradezu hatten führen müssen. Das heißt, wäre nur ein Umstand nicht eingetreten, könnte Oliver mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit noch leben. Zumindest analysierte er dies am nächsten Morgen, nachdem er die halbe Nacht mit Annabelle laut gestritten hatte und gegen vier Uhr morgens für ein paar Stunden endlich schlafen durfte. Aber egal, wie auch immer das alles passieren konnte, er war der Schuldige. Und Oliver McBrady war tot. Und eigentlich hätte er einen Sarg für sich gleich mitbestellen können. Denn von nun an ging’s bergab. Steil und schnell und nirgendwo eine Bremse.
Zuerst glaubte er noch, als Ian McBrady ihn am nächsten Tag in sein Zimmer bat, es ginge um die Trauerfeier und wie in den nächsten Tagen die Abteilung organisiert würde, wenn er für mehrere Tage nicht anwesend sei. Doch McBrady überreichte ihm die Kündigung. Sagte, es tue ihm leid, aber ihn jeden Tag sehen zu müssen, wäre einfach zu viel. Er müsse das verstehen. Hätte Patrick ihn etwa nicht verstehen sollen, den Vater, der durch ihn seinen Sohn für immer verloren hatte?
Als er nach Hause kam, fand er auf dem Wohnzimmertisch ein Briefkuvert:
Patrick, ich trenne mich hiermit von dir. In den nächsten Tagen wirst du von meinen Anwälten hören. Ich kann so nicht mehr mit dir zusammenleben. Deine Gefühlskälte, deine schrecklich analytische Art ist mir unerträglich geworden. Ich werde mit Jamie wieder nach London ziehen. Ich wünsche dir, dass du jemand findest, der dich besser versteht, der mit dir leben kann, so wie du bist. Mach’s Gut. Annabelle.
Es schnürte ihm den Hals zu, seine Zunge und sein Gaumen mit einem Mal staubtrocken wie ein längst vergessenes Flussbett. Seine Hand zitterte, als er den Brief auf den Tisch legte und er wieder dieses heftige Herzrasen bekam. Er griff nach dem Whiskyglas, das vor ihm stand, wollte die Dürre in seinem Mund loswerden. Als der Alkohol seine Kehle hinunter rann, bemerkte er kein Brennen wie sonst. Alles schien plötzlich wie betäubt. Wenigstens arbeitete sein Gehirn noch. Typisch, würde Annabelle jetzt sagen.
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